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Raus aus dem Hamsterrad! Was sich immer mehr Menschen wünschen, probieren einige junge Visionäre einfach aus. In Mecklenburg wollen sie den Grundstein für eine neue Gesellschaft legen. Die Idee eines amerikanischen Philosophen inspiriert sie besonders
Quelle: enorm magazin Text: Dorit Kowitz Bild:screenshot Wir bauen Zukunft

Ceylan Rohrbeck und ihre Cousine Lale wussten schnell, dass sie mit Nieklitz den perfekten Ort gefunden hatten. Den Ort für ein Experiment, das nicht weniger bringen soll als ein besseres Leben, ihnen – und ein bisschen auch der Welt. Eine Weile lang hatten sie ein Grundstück gesucht und standen nun in Mecklenburg, nahe der Grenze zu Schleswig-Holstein, auf diesen zehn Hektar Land, die wie ein Park angelegt waren. Mittendrin ein großer Pavillon, der gleich einem gläsernhölzernen Zeltlager der wuchernden Natur zu trotzen schien. Zwar sah man ihm seine drei Jahre Leerstand an – aber dieses Gebäude barg eindeutig Platz und Potenzial für Ceylans und Lales Pläne.

„Zukunftszentrum Mensch-Natur-Technik-Wissenschaft“ stand bis 2013 am Eingang des Geländes. Die krude Mischung aus Botanischem Garten, Landschaftspark und Freilicht-Gymnasium hatte ein ehemaliger Politiker aus Schleswig-Holstein mit Abermillionen Euro an Steuergeldern in die Pampa pflanzen lassen, ohne einen tauglichen Wirtschaftsplan allerdings. 2000 war das Zentrum nahe dem Biosphärenreservat Schaalsee eröffnet worden; zwei Jahre später ging die Stiftung pleite.

Umzug nach Utopistan

2016 traten Ceylan und Lale auf den Plan. Zugleich kamen Jannis Deutschmann und Ralf Müller mit ihren Partnerinnen in Nieklitz an, Jenny Silze und Stefan Kunzmann und noch ein paar mehr. Seitdem sind sie dabei, an diesem Ort ihre Leben umzukrempeln, denn sie wollen anders arbeiten, wohnen, haushalten als bisher – und sich ganz neu auf andere Menschen einlassen. Sie haben den Anspruch, sagt Ceylan, „die zentralen Bereiche einer Gesellschaft im Mikroformat“ abzubilden, von einer autarken Energie-, Wasser und Abwasserinfrastruktur über Wohneinheiten, Freizeitangebote bis zum Anbau eigener Nahrungsmittel.

Ceylan, Jannis und Ralf zählen in Nieklitz zur Kerngruppe, die aus einem Dutzend Hamburgern und Berlinern zwischen Ende 20 und Anfang 50 besteht; nur Lale Rohrbeck stammt aus der Schaalsee-Region. Die einen haben schon Enkel, die anderen noch keine Kinder. Sie sind Filmproduzentin, Architekt, Coach für Veränderungsprozesse, Grafikdesigner, Kindergärtnerin, Tischler – und seit einem knappen Jahr Genossen, aber nicht in einer Partei, sondern der Genossenschaft, die das Areal jetzt bewirtschaftet. Wir bauen Zukunft heißt sie, und das steht auch draußen am riesigen Eingangstor – und auf der Internetseite. Man kann sich einklinken und einlinken.

Was in Mecklenburg passiert, geschieht so oder ähnlich vielerorts. In Wien und Zürich, in Heidelberg und Berlin, in Dörfern oder Stadtteilen. Es ist keine Massenbewegung, eher eine Avantgarde ernstzunehmender Denker und Macher, die nicht mehr nur von einem besseren Leben reden, sondern es haben wollen. Besser bedeutet ihnen nicht materiellen Reichtum, sondern meint, nicht mehr auf Kosten anderer und keinesfalls mehr auf Kosten der Umwelt zu leben. Sie entwerfen Utopien, indem sie sie ausprobieren.

Das Comeback der Genossenschaft

Die Revolution ruft dafür keiner mehr aus. Wie sich auf der Reise zu den Visionären im Land zeigt, erfährt das Modell Genossenschaft eine Renaissance, sobald Gruppen versuchen, Antworten auf die Frage nach einer Gesellschaft von morgen zu geben. Offenbar ist die 200 Jahre alte Erfindung vom Gemeinschaftsunternehmen auch für die Visionäre der Jetztzeit noch aktuell.

In Genossenschaften schließen sich Mitglieder zusammen, um gemeinsam zu wirtschaften und ihre sozialen oder kulturellen Belange durch den gemeinsamen Betrieb zu fördern. Jedes Mitglied entscheidet mit, unabhängig von seiner Kapitaleinlage. In den Genossenschaften neuen Typs gelten kaum noch Dogmen. Doch in den Grundfragen scheinen sich die Alternativensucher einig zu sein: Fast immer wird Geld als Leistungsanreiz abgelehnt und die Wachstumslogik der Marktwirtschaft in Frage gestellt.

In Nieklitz führt der Weg ins Paradies durch Sperrmüll und Unkraut. Und er erfordert harte Arbeit im Hier und Jetzt. Im Pavillon, in dem gekocht, getagt, geduscht und gefeiert wird, zeugen beschriebene und beklebte Tafeln von einer aufwändigen gemeinsamen Meinungsbildung über alles und jedes. Soziokratie 3.0 nennen sie das. Da hängen Grundrisse und Flurkarten, To-do-Listen und Zeitachsen. Auf roten Klebezetteln steht, was auf Dauer gar nicht geht: „Zäune überall“, „Gebäude nicht nachhaltig“, „Brennnessel-Take-over!“. Auf den grünen, was Hoffnung verheißt: „Außergewöhnliche Architektur“, „Viele Freiräume“.

Offen und miteinander

Vor allem wollen sie offen sein. Ein offenes Seminar- und Kongresszentrum. Eine offene Quelle für Formen des nachhaltigen Wirtschaftens. Ihre Erkenntnisse sollen allen frei zugänglich sein. Obwohl weit weg von den großen Städten, möchten die Nieklitzer zum interdisziplinären Co-Working-Space für Denker, Künstler und Praktiker werden, ob für Digitalisierung, für Ingenieurswesen oder für die Neuausrichtung bestehender Unternehmen. Angesprochen sollen sich Menschen fühlen, „die Synergieeffekte und ein kreatives Klima brauchen“, sagt Ceylan Rohrbeck. Auch ein Waldkindergarten soll her. Neue Genossen werden gesucht – besonders gern solche, die sich auf ein Handwerk verstehen.

Sehr wichtig sei ihr, sagt die 29-jährige Ceylan ziemlich ernst, dass alles „in einem echten Miteinander“ geschehe, ja, „in wirklicher Gemeinschaft“. Man verlässt sich deshalb nicht darauf, dass schon alles gut gehen werde, wenn Neulinge dazustoßen wollen. Wer nicht bereit ist, sich und sein Tun ständig zu reflektieren und seine Achtsamkeit für sich und andere zu schulen, wird nicht aufgenommen.

Die meisten hier haben sich erst vor ein bis zwei Jahren kennengelernt. Jetzt finden sie in regelmäßigen „Teamzeiten“ heraus, was ihre Stärken und Schwächen sind. Dabei wird schon mal der „Redestab“ herumgereicht – wer ihn hält, erzählt, wie es ihm geht, was er plant, was ihn nervt und wie er den Konflikt lösen will. Das muss man mögen, ebenso wie das Freizeitangebot bei Seminaren. Eines heißt: Biografisches Lagerfeuer.

Nie wieder Hipster!

Wie kommt man auf diesen Trip? Ceylan sagt, dass sie mit 28 ihr hippes Berlin-Leben satt hatte. Nach dem Studium an der Filmhochschule Potsdam hat sie als Produzentin beim Film gearbeitet, mal zwölf, mal 14 Stunden am Tag. „Damit konnte ich mir meine teure Wohnung in Kreuzberg leisten.“ Sie sei den Reizen erlegen, die Berlin fluteten. „Natur beschränkte sich bei mir auf die Tomaten auf dem Balkon.“

Freunde sah sie nur, wenn sich irgendwo mal ein Zeitfenster öffnete. Den Job empfand sie zunehmend als Pflicht. „Ich wollte Arbeit und Leben eigentlich nie getrennt sehen“, sagt Ceylan. Darum fand sie sich mit ihrer Cousine Lale im Herbst 2015 auf Schloss Tempelhof in Süddeutschland wieder, zusammen mit zeitweise hunderten anderen Veränderungswütigen. Ihr aller Plan: in der alternativen Dorf-Kommune an einem „Earthship“ mitzubauen.

Was ein bisschen nach Sekte klingt und sich wie ein Pfadfinderlager angefühlt haben muss, ist ein durchaus weltliches Konzept, das der Amerikaner Michael Reynolds vor 40 Jahren entwickelt hat. „Earthship“-Häuser zeichnen sich durch möglichst geschlossene Energie- und Versorgungskreisläufe aus; sie bereiten Regenwasser auf, generieren Strom- und Heizenergie aus Wind- und Solaranlagen, klären im Idealfall ihr Abwasser selbst.

Auf dem Earthship zu Hause

Zu großen Teilen bestehen sie aus Wohlstandsmüll, bestenfalls aus lokal verfügbaren, recycelten alten Baumaterialien oder anderswo übrig gebliebenen neuen; Mauern und Fundament sind aus abgenutzten Autoreifen. Weltweit gibt es rund 1000 solcher Bauten. Ihre Form erinnert an eine verglaste Kreuzung aus Maulwurfhügel und Hundertwasser-Haus. Das erste deutsche Earthship auf Schloss Tempelhof, jener zwischen Stuttgart und Nürnberg gelegenen Hippie-Kommune, dient seit gut einem Jahr 25 Menschen als Heimat.

Küche, Duschen und Gemeinschaftsräume befinden sich im „Schiff“. Zurückziehen können sich die Bewohner in ihre Jurten, Bau- und Wohnwagen, die sie ringsherum aufgestellt haben. Ein Zugeständnis machte der Bauherr – ebenfalls eine Genossenschaft – den deutschen Behörden: Das Haus musste sich an die öffentliche Wasser- und Abwasserversorgung anschließen lassen. Waschmaschinen und Toiletten werden aber trotzdem aus eigenen Zisternen gespeist.

Ceylan und Lale Rohrbeck beseelte nach den Wochen vor Ort der Wunsch, selbst etwas Ähnliches aufzubauen. Ihn teilte auch Ralf Müller, ein 52-jähriger Architekt aus Hamburg, den die Arbeit in Tempelhof ebenfalls euphorisiert hatte – obwohl er sich, von der eigenen Familie abgesehen, eher als Einzelgänger und nicht als Gruppenmensch sieht. In Tempelhof war Müller ehrenamtlicher Planer und zeitweise auch Bauleiter. Für Nieklitz beschaffte er das Darlehen für den Kauf der Immobilie. Auch der Berliner Coach Jannis Deutschmann, heute 28, der mit Freundin und Baby eine Zeitlang in Tempelhof kampiert und mitgearbeitet hatte, sagt: „Das war so großartig. Aber es war auch schrecklich, als es vorbei war. Wir hatten so viel gute Energie und wussten erst mal gar nicht, wohin damit.“

Tag(s) : #Pioniere, #Leben und Arbeiten, #Paradigmawechsel, #Zukunft, #Umwelt, #Kulturell Kreative, #Gemeinschaft, #Share Economy, #Genossenschaft
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