Daniel Sieben ist Firmenkundenbetreuer für Erneuerbare Energien bei der Triodos Bank und hat über systemische Nachhaltigkeit promoviert. Wie die klaffende Lücke zwischen dem Anspruch an Nachhaltigkeit und der Wirklichkeit geschlossen werden kann, erklärt er in einem ganz persönlichen Beitrag.
2017 ist das Jahr der Nachhaltigkeitsjubiläen: Der Brundtland-Bericht, der zum modernen Begriff der Nachhaltigkeit mit den drei Dimensionen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft geführt hat, wird 30 Jahre alt und das Kyoto-Protokoll, mit dem Ziel den Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen zu begrenzen, wurde vor 20 Jahren verabschiedet. Der Begriff Nachhaltigkeit hat in der Zwischenzeit eine beeindruckende Karriere hingelegt und erfreut sich großer Beliebtheit.
Eigentlich sollte in diesem Jubiläumsjahr nun Grund zum Feiern bestehen, doch die Realität belehrt uns eines Besseren: Die globalen CO2-Emissionen gehen nicht zurück, sondern stagnieren bei einem leicht abgeschwächten Weltwirtschaftswachstum. Zieht die Konjunktur weltweit an, drohen die Emissionen sogar wieder zu steigen. Und noch schlimmer: Rückwärtsgewandte Entwicklungen, die nicht nur die Nachhaltigkeit der Demokratien gefährden, sondern die Demokratien als Staatsform an sich, sind auf dem Vormarsch.
Wie wirksam kann ein äußeres Bekenntnis zur Nachhaltigkeit sein, wenn die innere Verbindung zu ihr fehlt?
Was ist also schief gelaufen, dass gegenwärtig kaum Anlass zur Hoffnung auf Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele besteht? Recht schnell und widerstandslos wurde die Nachhaltigkeit dem alten Weltbild einverleibt, demzufolge zielgerichtete Veränderungen im Außen zu einer nachhaltigen Entwicklung führen sollen.
Doch reichen Veränderungen im Außen aus? Was ist mit unserer Innenwelt? Wir haben vor lauter Nachhaltigkeitseuphorie uns selbst vergessen, unsere mentale Innenwelt oder Persönlichkeit, die sich in unseren Beziehungen zur kollektiven Außenwelt von Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft spiegelt. Wie wirksam kann ein äußeres Bekenntnis zur Nachhaltigkeit sein, wenn die innere Verbindung zu ihr fehlt? Es ist bequem, Änderungen im Außen zu erwarten und als Experte zu kommentieren anstatt sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Das führt zu gelebten Widersprüchen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine empfindliche Lücke, die in uns beginnt und sich kollektiv in der Außenwelt wiederfindet.
Nachhaltige Entwicklung braucht mehr als gute Absichten
Unsere in der Vergangenheit erlebten Wahrnehmungen, unsere Ansichten und Überzeugungen prägen unsere subjektive Innenwelt und unsere Beziehungen in der objektiven Außenwelt gleichermaßen. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen werden daher erst durch nachhaltige Veränderungen der eigenen Innenwelt beständig. Solange diese Zusammenhänge negiert werden und wir in der sicheren Abstraktion von Ideen und Konzepten für die Außenwelt verbleiben, wird sich folglich nichts Wesentliches ändern.
Als ich auf einem Bio-Bauernhof und in einer Nachhaltigkeitsgemeinschaft gelebt habe, habe ich am eigenen Leib erfahren, dass eine nachhaltige Entwicklung trotz guter Absichten ohne geistige und emotionale Klarheit nicht zustande kommt. Um nicht nur zu wollen, sondern auch zu können, braucht es entsprechend sich entwickelnde und reife Persönlichkeiten; Basisdemokratie und wertschätzender Dialog sind wichtig, irren aber ohne wegweisenden Kompass für die einzuschlagende Richtung ziemlich hilflos umher. Natürlich galt das nicht für mich! Heute kann ich mir eingestehen, dass das eigene Überschätzen wohl Ausdruck der fehlenden Reife ist.
Deutliches Merkmal der über meine Person hinaus weit verbreiteten Orientierungslosigkeit ist meines Erachtens die nur wenig bewirkende „Zählerei“ von CO2-Emissionen, Temperatur- und Meeresspiegelanstiegen. Um systemisch, d.h. sowohl innen als auch außen und damit tatsächlich nachhaltig zu sein, müssen wir unser Inneres mitnehmen. Doch das Wahrnehmen alleine reicht nicht: Wir müssen es entwickeln. Hierfür können wir auf das Persönlichkeitsentwicklungsmodell der Psychologin Jane Loevinger zurückgreifen. Sie beschreibt acht Entwicklungsstufen von der selbstorientierten Stufe, in der der Mensch auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und andere Menschen als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung sieht, bis hin zu einer fließen Stufe, in der das Bedürfnis Dinge und Personen zu bewerten, aufgegeben wird und die Menschen sich an nichts klammern, sondern mit dem Fluss der Dinge mitschwimmen. Zwischen diesen Extremen befindet sich eine Stufe, in der die wechselseitigen Lebensbeziehungen dem eigenen Ich bewusst werden, die eigene Verbundenheit mit Umwelt und Mitmenschen zur erlebten Realität wird. Das eigene Denken und Handeln wird in dieser Persönlichkeitsstufe an Systemzusammenhängen ausgerichtet.
Der Kapitalismus gaukelt uns etwas vor
Wenn wir Loevingers Stufenmodell auf unser wirtschaftliches System übertragen, dann entspricht die erste und niedrigste Stufe dem Kapitalismus. Er gaukelt uns jeden Tag vor, es reiche zur Entstehung von Gemeinwohl vollkommen aus, nur an uns selbst zu denken und nach dieser Maxime unsere Entscheidungen zu treffen. Können wir auf dieser Basis eine wirklich nachhaltige Welt bauen? Ich glaube nicht. Wenn wir äußerlich nach Nachhaltigkeit streben und innerlich selbstorientiert bleiben, schließt sich die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Realität nicht.
Wir müssen nicht alle gleich die höchste Stufe der Ich-Entwicklung nach Loevinger erklimmen, aber die erste zu überwinden und einen nachhaltigen Systemegoismus zu entwickeln, durch den wir unser eigenes inneres, soziales und ökologisches Beziehungsnetz nicht mehr schaden, wäre ein enorm wichtiger Schritt. Mit Blick auf die positiven Entwicklungen in Bereichen wie der Kreislaufwirtschaft, Suffizienz, Entschleunigung, Work-Life-Balance, Gemeinwohlökonomie oder dem Postwachstum, die mehr und mehr an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und Bedeutung gewinnen, bin ich optimistisch, dass wir innerlich und äußerlich vorankommen.
Quelle Triodos Newsletter von Daniel Sieben Bildquelle pixabay Kanenori