/image%2F1403935%2F20160628%2Fob_b702cb_muna.png)
MUNA Wagner Autor von The MapMakersWorld BLOG: Muna Wagner Kolumne *NSFAQ "not so frequently asked questions" _Gedankenfutter
Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn verleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten als den Andersdenkenden.
Friedrich Nietzsche, 1844-1900, deutscher Philosoph
Sterbehilfe, anonyme Kindesabgabe, Organspende, Beschneidung aus religiösen Gründen. Dies sind sicherlich keine Themen für einen geselligen Abend unter Freunden. Doch diese Themen sind wichtig, prägen sie doch nicht nur unser Verständnis vom gesellschaftlichen Zusammenleben, sondern beziehen sich – manchmal eher abstrakt, bis es dann plötzlich konkrete Realität wird – auf unser individuelles Leben. Im Alltag beschäftigen wir uns selten mit der Frage, ob wir unsere Organe spenden wollen bzw. sollten, oder ob ich als Mensch ein Anrecht habe, mich im Krankheitsfall für meinen eigenen Tod zu entscheiden. Meist geschieht eine solche Auseinandersetzung erst dann, wenn das Thema mit der Tür ins Haus gefallen ist und man emotional so in eine Sache verwickelt wird, dass es eher schwerfällt, einen klaren Gedanken zu fassen.
Die Aufgabe sich mit solchen ethisch hoch komplexen und emotional aufgeladenen Fragen auseinanderzusetzten, das Für und Wider zu erörtern und dann richtungsweisende Empfehlungen für unsere Gesellschaft zu geben, kommt dem Deutschen Ethikrat zu, der von der SPD-geführten Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder bereits 2001 (damals unter dem Namen Nationaler Ethikrat) gegründet und schließlich 2008 zum Deutschen Ethikrat wurde.
Der Deutsche Ethikrat ist ein unabhängiger Sachverständigenrat, der – so der offizielle Auftrag – „die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft verfolgt, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben.“[1]
In unserer immer komplexer werdenden Welt ist es vielleicht sehr sinnvoll ein Organ zu schaffen, welches solche Themen (wie eingangs aufgeführt) erörtert. Um jedoch in dieses Gremium benannt zu werden, führt der Weg unweigerlich über die Politik: Die eine Hälfte der 26 Mitglieder des Deutschen Ethikrats wird von der Bundesregierung vorgeschlagen, die andere Hälfte vom Bundestag. Die schlussendliche Berufung erfolgt dann wiederum über den Bundestagspräsidenten. Damit eine gewisse politische Unabhängigkeit garantiert ist, dürfen Mitglieder zeitgleich zu ihren Aufgaben im Deutschen Ethikrat nicht auch noch Mitglied im Parlament oder in der Regierung sein. Ziel dieser Regelungen ist es, auf diese Weise „unterschiedliche ethische Ansätze und ein plurales Meinungsbild“ im Ethikrat vertreten zu sehen.
Dieses durchdachte System wirkt zunächst klug gewählt. Wirft man jedoch einen Blick auf die Persönlichkeiten, die sich in diesem Gremium wiederfinden, wird man stutzig. Auf der Webseite des Ethikrates sind alle derzeitigen Mitglieder samt Beruf und Werdegang aufgelistet. Es ist folglich ihre berufliche Leistung, die ihre Kompetenz als Ratgeber in ethischen Fragen ausmacht. Interessanterweise findet man unter den 26 Mitgliedern, die derzeit den Rat stellen, insgesamt nur fünf Berufsgruppen vertreten: zwölf Mediziner, sechs Juristen, vier Theologen, zwei Psychologen und zwei Philosophen.
Es ist sicherlich kaum möglich, die ganze Vielfalt einer pluralen Gesellschaft in einem Gremium abzubilden. Dafür ist Deutschland viel zu heterogen. Und dennoch stellt sich die Frage, wie dann in diesem Kontext „Pluralität“ zu begreifen ist. Der Duden definiert Pluralität als „mehrfaches, vielfaches, vielfältiges Vorhandensein, Nebeneinanderstehen“. Diese Vielfalt ist im Ethikrat wenig ausgeprägt. Wie können fünf Berufsgruppen divers diskutieren? Ein jeder Diskurs wird erst durch die Vielfalt seiner Teilnehmer lebendig und bekommt Ecken und Kanten. Neue Ansätze können sich erst dann entwickeln, wenn man über seinen eigenen Denkraum, seine eigene Comfort-Zone hinausgeht und so angeregt wird, seine eigenen Überzeugungen zu hinterfragen – selbst wenn man nach einem lebendigem Austausch verschiedener Ansichten abschließend wieder zu seiner Ausgangsthese zurückkehrt.
Sicherlich soll dies nicht bedeuten, dass ein jeder Gedanke, eine jede Berufsgruppe, eine jede Subkultur im Deutschen Ethikrat seine Vertretung finden muss. Jedoch stellt sich die Frage, wie die Mitglieder die „naturwissenschaftliche(n), medizinische(n), theologische(n), philosophische(n), ethische(n), soziale(n), ökonomische(n) und rechtliche(n) Belange“ gleichermaßen abdecken wollen, wenn Expertenwissen beispielsweise auf den Gebieten der Soziologie und Ökonomie zum Teil gänzlich fehlen oder nur gering vertreten sind.[2] Welche Gesellschaft vertritt dann ein solcher Rat?
Die Berufsangaben der Mitglieder lesen sich eher wie das „Who is Who“ eines illustren Wissenschaftskreises. Vermisst werden die „anerkannten Personen, die in besonderer Weise mit ethischen Fragen der Lebenswissenschaften vertraut sind“ und sich daher auf andere Weise als der rein wissenschaftlichen/intellektuellen mit diesen Themen auseinandersetzen. Es ist kein Autor, Schauspieler oder Künstler vertreten. Journalisten, die im Ideal als überwachende Demokratieinstanz fungieren, fehlen gänzlich, ebenfalls vermisst werden Soziologen ohne gerontologischen Forschungsschwerpunkt und Menschen, die über die Wissenschaft hinaus in ihrer alltäglichen beruflichen Praxis mit den komplexen Fragen der Ethik konfrontiert werden. Mittelständische Geschäftsführer sind ebenfalls nicht vertreten. Auch Menschen, die sich öffentlich mit vielleicht unbequemen aber immer relevanten Themen auseinandersetzten, sucht man unter den Mitgliedern vergeblich.
Aber selbst wenn man über die starke Fokussierung auf ein paar wenige Berufsgruppen hinwegsieht, wirft die Konstellation der Mitglieder weitere Fragen auf. Neben den Berufsbezeichnungen, die als ausschlaggebendes Kriterium angenommen werden können, stellt sich die Frage, wieso zunächst eine Verankerung oder ein gewisser Bezug zur christlichen Kirche für die Mitgliedschaft von Relevanz zu sein scheint bzw., wenn Religionszugehörigkeit schon ein Kriterium ist um in und für eine säkularen Gesellschaft ethisch beratend tätig zu sein, inwiefern auch religiöse Vielfalt bei der Besetzung des Gremiums berücksichtigt wird.
Neben den vier Herren der Theologie (allesamt Professoren) sitzt lediglich noch ein weiteres Mitglieder einer anderen Religionsgemeinschaft im Deutschen Ethikrat, so sie denn in dieser aktiv ist bzw. es daher Teil der Karriere und damit öffentlich einsehbar ist: ein Vertreter des muslimischen Glaubens – damit ist diese Zahl sehr überschaubar.[3] Inwiefern dies nun die Pluralität unserer Gesellschaft widerspiegelt, bleibt dabei offen. Ohne Zweifel ist Deutschland ein Land, das stark vom Christentum geprägt wurde. Mittlerweile sind zwar immer noch 59,38 Prozent der deutschen Bürger christlichen Glaubens, aber die Zahl der anders Gläubigen (4,89 Prozent muslimischen, 2,65 Prozent anderen Glaubens) und vor allem die der Konfessionslosen (33,06 Prozent)[4] ist von einer Größe, die in einem Rat, der sich mit ethischen Fragen von gesellschaftlicher Relevanz beschäftigt, nicht vernachlässigt werden sollte. Auch wenn Fragen der Ethik historisch gesehen stark mit Glauben verbunden sind, ist eine Religionszugehörigkeit nicht das einzige und auch nicht das ausschlaggebende Kriterium, um sich mit diesen komplexen Themen beschäftigen zu können. Darüberhinaus steht sonst auch immer die Gefahr im Raum, alles nur durch ein und die selbe Brille betrachten zu können – ein Aspekt, der wider des pluralen Aspekts des Deutschen Ethikrates läuft.
Noch deutlicher wird die mangelnde Pluralität, wenn man sich der Aufstellung des Rates ganz pragmatisch nähert: Über die Hälfte der Mitglieder sind männlich, das derzeit älteste Mitglied wurde 1943 geboren, das jüngste 1977. Die Hälfte aller Mitglieder wurde in den 60er Jahren geborgen, elf davor und ganze zwei danach. Damit ist der Rat von der jüngeren Generation unserer Gesellschaft abgespalten und kann nur einen gewissen Zeitgeist vertreten. Sichtweisen, die sich in den jüngeren Generationen entwickeln wie beispielsweise die der Share Economy, finden so keinen unmittelbaren Eingang in die Diskussionen. Eine Gesellschaft ist stets im Wandel und steht nie still – was sich besonderes in Diskussionen zwischen den Generationen abzeichnet. Doch ein solcher Diskurs kann im derzeitigen Ethikrat kaum zu Stande kommen.
Dieser grundlegende Gedanke von Wandel innerhalb einer Gesellschaft, von Veränderungen ethischer Einstellungen bleibt außen vor. Der Diskurs über die Fragen der Gesellschaft wird nur von einigen wenigen, meist männlichen Wissenschaftlern bestimmt. Es ist daher nicht ohne Ironie, dass der Deutsche Ethikrat aufgrund genau dieser Zusammensetzung sehr repräsentativ für die deutsche Gesellschaft ist, spiegelt er doch genau die Machtstrukturen wider, die politisch und gesellschaftlich immer wieder diskutiert werden: männliche Dominanz (in Führungspositionen), mangelnder Schutz von Minderheiten, fehlende gelebte religiöse Vielfalt und Toleranz – um nur einige zu nennen. Wie soll ein Ethikrat Empfehlungen aussprechen, wenn die vorgeschlagenen und ernannten Mitglieder durch die Politik noch nicht einmal die Vielfalt selbst darstellen können? Wie soll man Vertrauen in die Politik haben, wenn ihre Macher noch nicht einmal beim Ethikrat die Pluralität aufbringen können, die sie an anderer Stelle von Unternehmen (Stichwort: Frauenquote in Führungspositionen), ja der Gesellschaft als ganzes (Stichwort: Integration von Flüchtlingen) fordern?
So kommt man nicht umhin, den Ethikrat nur als Spiegel unserer Gesellschaft zu sehen, nicht als ihr ethischer Pionier. Vielleicht wiegt Wissenschaft in diesem Sinne mehr als Kunst, vielleicht können Männer ethisch eher Rat geben als Frauen, vielleicht muss man ein Kind der 40er-, 50er- und 60er-Jahre sein, um „naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, ethische, soziale, ökonomische und rechtliche Belange in besonderer Weise repräsentieren“ zu können. Vielleicht zeigt es aber auch nur, dass unsere Gesellschaft vielschichtiger ist, als sie das Gremium, das Empfehlungen für uns alle aussprechen soll, abbildet. Aber ist es dann in der Lage, ethischen Rat für alle Bürger zu erteilen?
[1] Wenn nicht anders vermerkt, sind alle unter dieser Frage angegebenen Zitate der Webseite des Deutschen Ethikrats entnommen (http://www.ethikrat.org/ueber-uns/auftrag - letztes Download: 28.06.15).
[2] Hieraus leitet sich unweigerlich die Frage nach der Definition von „Expertise“ – ab wann ist man ein Experte oder in diesem Fall ausreichend „in besonderer Weise mit den ethischen Fragen der Lebenswissenschaften vertraut“ um daher in den Rat berufen zu werden?
[3] Im Ethikrat von 2012 bis 2016 war auch noch ein Mitglied der jüdischen Gemeinde Deutschlands vertreten. Auch wenn damit von den drei Weltreligionen Christentum, Islam und Judentum mindestens ein Mitglied im Ethikrat vertreten war, kann von einer Widerspiegelung der pluralen Gesellschaft nicht die Rede sein.
[4] Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Statistik über die Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen der EKD im Jahr 2010.