von Muna Wagner Kolumne *NSFAQ "not so frequently asked questions" _Gedankenfutter
Frage 1: Welche Werte sind deutsche Werte, die verteidigt werden müssen?
But behind the façade lies a nation [Germany] distinctly uncertain about where it is, where it is going, even how it got there. Seeking refuge from the world’s uncertainties, on the one hand they rely on order and system, the State and the European Central Bank; on the other they retreat into the Angst of the soul, psychoanalysis and high culture.
Stefan Zeidenitz und Ben Barkow, Xenophobe’s Guide to The Germans, 2011, S. 1
Spätestens seit den Geschehnissen in der Silvesternacht in Köln und Hamburg wird sie lauthals und ohne Atempause geführt: die Debatte um die deutschen Werte, die durch die zahlreichen nach Deutschland Fliehenden bedroht würden. Doch von welchen Werten ist hier eigentlich die Rede? An welche Werte denken Sie, wenn Sie nach den Werten Deutschlands gefragt werden?
Die häufigste Antwort auf diese Frage scheint laut Öffentlichkeit die der christlichen Werte zu sein. Genauer wird dies nicht benannt. Muss man wahrscheinlich auch nicht, wir sind ja schließlich ein christliches Land mit christlichen Traditionen und Werten. Wir wissen schon, was wir damit meinen. Vielleicht meinen wir mit christlichen Traditionen das Weihnachtsfest, die Ehe in Weiß vor dem Traualtar und die christliche Nächstenliebe. Dabei scheint aber keine Rolle zu spielen, dass erstens jedes dritte Kind (39%) bei einer Umfrage des Münchner Jugend-Forschungsinstituts iconkids & youth nicht wusste, aus welchem Anlass das Weihnachtsfest gefeiert wird[1] und nur jeder Zweite in einer Studie der Stiftung für Zukunftsfragen Weihnachten überhaupt für ein christliches Fest hält und zweitens – wie der Einzelhandel es auch wieder für 2015 bestätigt – wir es am liebsten mit einem Konsumrausch feiern. Das ist also christlich. Oder auch die Trauung in weiß. Wie gern wird dabei vergessen, dass das weiße Brautkleid traditionell für die sogenannte Ehre der Frau steht: ihre Jungfräulichkeit. Traditionell, das will heißen noch vor 100 Jahren, war es Brauch, dass Frauen, die bereits vor ihrer Ehe Geschlechtsverkehr hatten, in Unehren vor den Traualtar zu treten hatten, in einem schwarzen Kleid. War ein schwarzes Kleid dann in späteren Zeiten dann evtl. doch zu drastisch, blieb immer noch der Myrtenkranz. War er geschlossen, so handelte es sich bei der Braut um eine Züchtige, die ihre Jungfräulichkeit mit in die Ehe brachte, war es geöffnet... nun ja. Diese Tradition, die vor allem in der katholischen Kirche zu finden ist, war noch bis in die 70er-Jahre weit in Deutschland verbreitet. Also auch alles ganz christlich. Aber vielleicht denken wir in der Debatte um die deutschen christlichen Werte ja eher an die Werte der Nächstenliebe. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. Ist hiermit nur der Nächste gemeint, der so aussieht wie ich, der sich so anzieht wie ich und der auch am liebsten Kartoffeln und Würstchen isst? Oder gilt es diesem Nächsten, trotz aller Unterschiede, nicht doch auch diese christliche Liebe entgegenzubringen?
Sicherlich ist es legitim festzustellen, dass es unterschiedliche Lebensstile und -auffassungen zwischen verschiedenen Kulturen gibt. Es wäre absurd dies zu negieren. Ebenso absurd ist es jedoch so zu tun, als ob wir in Deutschland eine einheitliche Wertekultur leben würden. Frauen und Männer sind dem Gesetz nach zwar gleichgestellt, in der Realität jedoch nicht (gleicher Lohn für gleiche Arbeit sei hier das Stichwort). Es gibt in unserem Land nicht nur Christen, sondern auch viele Atheisten (und Juden, Muslime, Hindus und Buddhisten etc.). Es gibt überzeugte Veganer und Vegetarier und gleichermaßen überzeugte Fleischesser. Es gibt Leute, die nichts auf die klassische Schulmedizin kommen lassen und diejenigen, die sich nur alternativ behandeln lassen. Alle handeln entsprechend ihrer Überzeugung, entsprechend ihren Werten. Oder auch nicht. Denn wie häufig handeln Sie im Alltag bewusst nach Ihren Werten statt nur aus dem Effekt heraus? Wie häufig treffen Sie bewusst Ihre Entscheidung, anstelle nur aus Gewohnheit? Oder gehören Werte gar nicht in den Alltag? Sind Werte eher etwas wie eine Sammlung von kostbarem Porzellan, das man sich in die Vitrine stellt und vorzeigt, aber nur zu besonderen Anlässen herausnimmt und benutzt?
Doch zurück in die deutsche Praxis. Vielleicht denken Sie selbst nicht im religiösen Kontext und verbinden mit Werten Aspekte wie Demokratie, Freiheit oder Menschenrechte. Oder vielleicht auch daran, dass das deutsche Grundgesetz festhält, dass die Würde des Menschen (nicht des deutschen Menschen, sondern des Menschen an sich) unantastbar ist. Aber egal, welche Werte Sie mit Deutschland verbinden, Werte zu vermitteln ist eine ganz andere Herausforderung. Dies gelingt nicht durch eine gewisse Erwartungshaltung und auch nicht durch Verbote. Es geht nur durch Vermittlung und Dialog, durch Erkenntnis. Stellen Sie sich vor, Sie müssten aus welchen Grund auch immer (welchen Teufel Sie an die Wand malen wollen, überlasse ich ganz Ihrer Phantasie) in einem arabischen Land Zuflucht suchen. Nun redet Ihr dortiger Arzt stets nur mit Ihrem Mann, obwohl Sie die Patientin sind (bzw. der Arzt redet nur mit Ihnen, statt mit Ihrer Frau). Wie fühlt sich so etwas an? Fühlen Sie sich gekränkt? Nicht richtig wahrgenommen? Gar degradiert? Zu welchen Urteilen kommen Sie über den behandelnden Arzt? Oder gar die gesamte Kultur? Das Land an sich? Kommt Ihnen in dieser Situation der Gedanke, dass dieser Arzt nicht mit der Patientin direkt kommuniziert, weil dies in seiner Wahrnehmung ein Zeichen von Höflichkeit ist? Aus Respekt vor der Frau? Oder stellen Sie sich vor, Sie müssten in die USA immigrieren. Das Land der unendlichen Möglichkeiten. Das Land mit dem Fahnenschwur. Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie selbst und/oder Ihre Kinder – und dies jeden Morgen in der Schule – den Eid auf Amerika schwören? Fiele es Ihnen leicht, diese Kultur anzunehmen und umzusetzen? Was würde dies für Ihre Werte und Ihre Identität bedeuten? Menschen die aus Not ihre Heimat verlassen, lassen alles hinter sich: ihr Hab und Gut, vertraute Wege und vertraute Menschen. Ist es da nicht verständlich, dass man in einer neuen, fremden Umgebung mit fremden Menschen, fremdem Essen, fremden Bräuchen an seinen eigenen umso mehr festhält? Aus Angst sich selbst ganz zu verlieren? Nicht zu wissen, wer man sonst ist?
Auch dies sind Aspekte, die man in der Flüchtlingspolitik und Integrationsdiskussion bedenken muss. Anpassung braucht Zeit, auch wenn es sich dabei um die Anpassung an solche Werte wie Freiheit und Demokratie handelt. Besonders deutlich wird dies bei Flüchtlingen, die aus der nordkoreanischen Diktatur nach Südkorea geflohen sind. Viele sind mit der Freiheit Entscheidungen zu treffen überfordert. Die Freiheit eigene Entscheidungen zu treffen bedeutet auch immer die Pflicht eigene Verantwortung zu tragen. Wie soll man dies in die Praxis umsetzen, wenn man es nie gelernt hat? Wie soll man von heute auf morgen wissen, wie man sich in einer fremden Gesellschaft zu verhalten hat, wenn es keine geschriebenen Werte gibt, wenn man nicht zwischen den Zeilen lesen kann? Wenn das eigene Verhalten, wie beispielsweise lieber auf Matratzen auf dem Boden zu sitzen als auf einer Sofagruppe, im besten Fall als unangemessen, im schlimmsten als dumm, ungepflegt, unmöglich be-wert-et wird, man aber nicht versteht, wieso? Weil man es doch nur so kennengelernt hat, von seinen eigenen Eltern und deren Eltern sowie deren Eltern?
Nur um eines klarzustellen: Verständnis, Empathie für jemanden zu zeigen, bedeutet nicht alles zu tolerieren, zu akzeptieren. Es bedeutet aber, dass man versucht sich in die Lage eines anderen zu versetzen und ihn dort abzuholen, wo er steht. Und entsprechend dem dann zu handeln. Mal mit Mitgefühl, mal mit erklärten Regeln und Verboten oder auch mit der konkreten Ausübung von staatlicher Gewalt. Denn Integration ist keine Einbahnstraße, auch wenn sie als solche immer gern diskutiert wird. Integration bedeutet nicht, dass wir „unsere deutschen Werte“ (wenn es solche überhaupt mit einheitlicher Definition gibt) verneinen oder gar aufgeben müssen. Es bedeutet aber, dass man sich seiner eigenen Werte bewusst wird. Dass man sich selbst damit auseinandersetzt, welche Werte existentiell sind und wie man diese umsetzt. Betrachtet man die Diskussion über die Geschehnisse in der Silvesternacht, so scheint die Bewegungsfreiheit der Frau ein solches Wertgut zu sein. Jedoch geht die Bewegungsfreiheit der Frau über die körperliche Unversehrtheit hinaus. Sie muss die metaphorische Ebene einschließen, d. h. die Entscheidungsfreiheit, Karriere zu machen und/oder Mutter sein zu können und Chancengleichheit im beruflichen wie persönlichen Bereich.
Die Welt verändert sich und manchmal ist es die Begegnung mit dem ach so Anderen, die diese Veränderung vor Augen führt. Noch bis 1976 war eine Frau in Deutschland nicht in letzter Instanz in vollem Umfang geschäftsfähig – die Oberhoheit über ihre Verträge, etwa beim Einkauf eines Pullis oder Hose, lag immer noch bei ihrem Göttergatten. Seither sind gut 40 Jahre vergangen. Das ist sicherlich ein halbes Menschenleben. Aber in der historischen Zeiterfassung der menschlichen Entwicklung ist dies nur ein Augenblick. Integration bedeutet, dass sich Dinge verändern. Für diejenigen, die in unser Land kommen wie auch für uns. Es bedeutet vor allem, dass man loslässt, von der Art und Weise wie Dinge funktioniert haben. Bevor die italienischen Gastarbeiter kamen, waren Pizza und Pasta suspekte Gerichte, ohne die türkisch stämmigen Einwohner gäbe es keine Döner, ein Gericht, das mittlerweile zu den Lieblings-Fastfood der Deutschen gehört. Was haben wir verloren, seit sich die Dinge geändert haben? Das schwarze Brautkleid etwa und die Geschäftsunfähigkeit der Frau? Es gibt Werte und Traditionen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt hilfreich und sinnvoll sind, aber Evolution und Fortschritt bedeutet sich weiterzuentwickeln. Es bedeutet, Gewohntes loszulassen und offen zu sein für etwas Neues. Ganz wie ein Kind, das zu jedem Zeitpunkt bereit ist, das loszulassen, was es ist – zum Beispiel ein wilder kleiner Krabbler – um das zu werden, was es sein kann: ein aufrecht stehender, selbstständiger, wahrhaft mündiger Mensch.
[1] Dass diese Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2002 und damit lange vor der Bedrohung des Abendlandes durch die Flüchtlingskrise stammen, sei hier nur am Rande erwähnt.
Muna Wagner, geboren 1982 in Brasilia, wächst in fünf verschiedenen Ländern auf und entwickelt früh eine Faszination für die Vielfalt der Kulturen und die Menschheit verbindende Elemente. Dieses Thema ist ein stetiger Begleiter in ihrem Beruf, sei es als freie interkulturelle Trainerin oder als Autorin der Kolumne „Über den Tellerrand“ und Gastbloggerin zu gesellschaftspolitischen Themen. Daneben schreibt sie Gedichte, von denen einige 2006 in Indien veröffentlicht werden. Dem Medium Film an sich und dem Drehbuchschreiben im Besonderen, das sie schon früh als erzählerisches Format begeistert, widmet sie sich 2009 mit dem Studiengang „Screenwriting“ an der New York Film Academy, USA. Mit dem Drehbuch FORGIVE AND FORGET, in dem es um die Vergebung in einer jüdisch-deutschen Familie geht, schließt sie ihr Studium ab. Für die indische NGO WasteLess verfasst sie 2012 Kurzgeschichten, in denen sie Kinder schrittweise an Umweltschutz heranführt; diese Geschichten werden an staatlichen Schulen als Lehrmaterial eingesetzt. Derzeit arbeitet sie nach STILLE (2015) an ihrem zweiten Kurzfilm DAS PICKNICK.